Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass Seeigel, die oft als einfache Meerestiere abgetan werden, ein unerwartet komplexes Nervensystem besitzen – im Wesentlichen eine „Gehirnorganisation“, die über ihren gesamten Körper verteilt ist. Diese Entdeckung verändert unser Verständnis darüber, wie sich komplexe Nervensysteme entwickeln, grundlegend und legt nahe, dass zentralisierte Gehirne keine Voraussetzung für anspruchsvolle neuronale Funktionen sind.
Die radikale Metamorphose des Purpurseeigels
Die vom Entwicklungsbiologen Periklis Paganos geleitete Studie konzentrierte sich auf den Purpurseeigel (Paracentrotus lividus ). Diese Kreaturen durchlaufen eine dramatische Transformation und wandeln sich von frei schwimmenden Larven mit bilateraler Symmetrie (zwei gespiegelte Hälften) zur bekannten, radialsymmetrischen Erwachsenenform. Diese Metamorphose beinhaltet eine radikale Neuorganisation ihres Nervensystems.
Früher galten die Nervensysteme von Stachelhäutern (einschließlich Seeigeln, Seesternen und Seegurken) als relativ einfach und ohne zentrales Gehirn. Die neue Forschung zeigt jedoch, dass das Nervensystem des erwachsenen Seeigels weitaus ausgefeilter ist als bisher angenommen.
Kartierung des „Gesamthirns“
Die Forscher erstellten einen detaillierten Zellatlas des jungen Seeigels und kartierten, welche Gene in den einzelnen Zellen aktiv waren. Die Analyse ergab, dass das Nervensystem während der Metamorphose eine erhebliche Veränderung erfährt. Anstelle eines dezentralen Nervennetzes besteht das Nervensystem des erwachsenen Seeigels aus einer Vielzahl neuronaler Zelltypen, die über den gesamten Körper verteilt sind.
Dazu gehören Neuronen, die bekannte Neurotransmitter wie Dopamin, Serotonin, GABA, Glutamat, Histamin und Neuropeptide exprimieren. Dies deutet darauf hin, dass das Nervensystem des Seeigels nicht nur ein einfaches Netzwerk miteinander verbundener Neuronen ist, sondern ein voll funktionsfähiges, verteiltes Gehirn.
Konventionelle Weisheit in Frage stellen
Die Vielfalt der Neuronen im jungen Seeigel widerlegt grundsätzlich die Vorstellung, dass das Zentralnervensystem von Stachelhäutern „einfach“ sei, nur weil ihnen ein zentralisiertes Gehirn fehlt. Tatsächlich beschreiben die Forscher dieses Nervensystem als einen „All-Gehirn“-Zustand und nicht als „Nicht-Gehirn“-Zustand, wobei der gesamte Körperplan einem Wirbeltierkopf ähnelt und voller komplexer Neuronen ist.
Der Evolutionsbiologe Jack Ullrich-Lüter vom Naturhistorischen Museum Berlin betont, dass diese Ergebnisse unser Denken über die Evolution komplexer Nervensysteme grundlegend verändern. Die Studie legt nahe, dass Tiere ohne ein herkömmliches Zentralnervensystem dennoch eine gehirnähnliche Organisation entwickeln können.
Implikationen für die Entwicklung des Nervensystems
Diese Entdeckung hat erhebliche Auswirkungen auf unser Verständnis der Evolution des Nervensystems. Dies legt nahe, dass komplexe neuronale Funktionen nicht unbedingt ein zentralisiertes Gehirn erfordern. Die „All-Gehirn“-Organisation des Seeigels stellt die gängige Meinung in Frage, dass zentralisierte Gehirne ein notwendiger Schritt in der Entwicklung von Intelligenz und Komplexität seien.
Die Ergebnisse eröffnen neue Wege für die Erforschung der Evolution von Nervensystemen und legen nahe, dass dezentrale neuronale Architekturen häufiger und ausgefeilter sein könnten als bisher angenommen. Die Studie beleuchtet die bemerkenswerte Plastizität tierischer Nervensysteme und die vielfältigen Möglichkeiten, wie Komplexität in der natürlichen Welt entstehen kann.
Im Wesentlichen zeigt die „Gehirn“-Organisation des Seeigels, dass die Entwicklung der Intelligenz nicht unbedingt mit der Entwicklung eines zentralisierten Gehirns verbunden ist, was lange bestehende Annahmen über den Ursprung und die Entwicklung von Nervensystemen in Frage stellt
